INTERMEZZO

Die heilende Kraft der Theorie

ETWAS SCHWIERIGES ODER TRAUMATISCHES zu überleben und nicht zu wissen, warum es zu dem Ereignis kam, kann ungeheuer verstörend sein. Ohne ein klares Warum können wir kein sinnstiftendes Narrativ zusammenfügen, und unser Nervensystem kann nicht zur Ruhe kommen. Unsere defensiven Anteile werden dann in einer riesigen, klaffenden Lücke der Ungewissheit zurückgelassen, und das ist für ein Gehirn, das ja die Aufgabe hat, Sinn und Bedeutung in den Dingen zu finden, unendlich frustrierend. In solchen Situationen spielt das Gehirn tendenziell Szenarien immer wieder durch und sucht fortwährend nach Hinweisen, die helfen, Lücken zu füllen, in dem Versuch, den Sinn des Ganzen zu finden. Wenn wir uns auf ein Warum festlegen können, ermöglicht uns das, die Erfahrung zu benennen und sie sprachlich besser zu erfassen; so können wir erkennen, inwiefern wir selbst und andere betroffen sind. Das wiederum aktiviert die linke Seite unseres präfrontalen Kortex, die »Kommandozentrale« unseres Gehirns.

Studien haben gezeigt, dass der linke präfrontale Kortex mit dem in Verbindung steht, was man als unser Annäherungssystem bezeichnet – die schicke Benennung für einer Reaktion, die wir haben, wenn wir uns sicher genug fühlen, um einer Situation mit Neugierde zu begegnen und kreativ nach einer Lösung zu suchen. Eine von der rechten Hemisphäre dominierte Reaktion des präfrontalen Kortex wird mit unserem eher defensiven Vermeidungssystem in Verbindung gebracht, das uns dazu veranlasst, dichtzumachen, zu Pillen oder anderen (Sucht-)Mitteln zu greifen und wegzulaufen.

Wir wissen auch, dass ein Trauma in einem nichtlinearen, nicht kohärenten System gespeichert ist, das als implizites Gedächtnis bezeichnet wird und dafür verantwortlich ist, dass schwierige Erinnerungen (manchmal sogar die Erinnerung an die gesamte Kindheit) so oft Lücken und fehlende Teile aufweisen. Daher können theoretische Erläuterungen, wie und warum wir so sind, wie wir sind, hilfreich sein, um solche zerstreuten Bruchstücke aus dem impliziten Gedächtnis herauszuholen. Sie können dazu beitragen, jene Teile von uns, die unverarbeitete emotionale Erfahrungen in sich tragen, aus der Fragmentierung heraus- und an einen Ort zu bringen, an dem Gefühle und Narrative endlich in Fluss kommen können. Einfach ausgedrückt: Wenn wir die bewegten Anteile benennen können, die an einer Erfahrung beteiligt sind – vor allem, wenn das schwierig ist –, kann das unser Gefühl von Klarheit und Empowerment wiederherstellen.

In diesem Sinne – dass eine heilende Kraft in der Theorie liegt – möchte ich unsere Diskussion in Teil drei dieses Buches um Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaft erweitern, die sich im Großen und Ganzen nahtlos in das Modell der Teile-Arbeit einfügen, mit dem wir uns schon beschäftigt haben. Informationen über unser Gehirn- und Nervensystem können einen unglaublich hilfreichen Hintergrund liefern, wenn es darum geht, unsere psychischen »Anteile« nicht nur als persönliche Eigenheiten, als etwas Individuelles zu verstehen, sondern zu einem gewissen Teil auch als Reaktionsmuster auf gesellschaftliche Kräfte. Eine solche Erweiterung unseres Blickwinkels erleichtert es, unsere Diskussion in Richtung soziale Strukturen und gesellschaftliche Konditionierung zu lenken. Dazu werde ich einige dynamische neuropsychologische Systeme erörtern, die daran beteiligt sind, wie die Erfahrung sozialer Wahrnehmung gelebt wird; insbesondere gehe ich darauf ein, dass neurologische und unbewusste psychische Faktoren eine enorme Rolle spielen, wenn es um Macht, Privilegien und Ungerechtigkeit geht. Ich habe eine solche Sichtweise meiner eigenen Erfahrungen als ungeheuer hilfreich empfunden. Jede Steigerung unserer Bewusstheit stärkt unsere persönliche Freiheit, weil Bewusstheit immer zu Entscheidungen führt. Für Menschen mit vielen traumatischen Erfahrungen kann das bedeuten, dass sie neue Optionen haben, ihre Vergangenheit umzudeuten und mit größerer Handlungsfähigkeit voranzuschreiten. Für Menschen mit vielen Privilegien (die unter Umständen ebenfalls viel Traumatisches mit sich herumtragen) kann das bedeuten, dass sie präziser – und im Laufe der Zeit auch schneller – wahrnehmen, wie neuropsychologische Tendenzen und soziale Konditionierungen uns dazu bringen, unsere Privilegien abzuleugnen, sie zu schützen und aufrechtzuerhalten. Es kann bedeuten, dass wir stattdessen lernen, wie wir unsere Privilegien anerkennen, sie positiv einsetzen und teilen.

Dennoch gelten die folgenden Ausführungen nur mit Vorbehalt, denn es sind zwar plausible Theorien, doch basieren sie auf dem, was wir jetzt über das Gehirn wissen. Ich möchte dazu beitragen, dass wir bestimmte Voraussetzungen, die eine Rolle spielen, leichter erkennen können, bin aber nicht darauf aus, genaue Ursachen festzulegen. Mein Ansatz ist, diese Fragen als Gelegenheit zur Steigerung der Bewusstheit zu nutzen und eine andere Art von Genauigkeit in den laufenden Diskurs einzubringen. Ich habe mich nach bestem Vermögen bemüht, eine Sprache zu verwenden, die kein Klinik-Jargon ist, damit meine Ausführungen möglichst gut nachvollziehbar bleiben. Infolgedessen könnte einiges von dem, was ich vorbringe, als vereinfachend oder als Rechtfertigung einer Ansicht kritisiert werden, insbesondere von denjenigen, die vielleicht Dinge losgelöst von ihrem Zusammenhang lesen (wozu wir alle neigen). Sich mit Themen wie Rassendiskriminierung und Unterdrückung zu beschäftigen ist meiner Erfahrung nach eine sichere Methode, um eigene blinde Flecken und Konditionierungen offenzulegen. Solche Themen zu vermeiden würde jedoch bedeuten, einige sehr heikle Fragen zu umgehen, die nicht nur unsere äußere, sondern auch unsere Innenwelt beeinflussen.